Gerichtsentscheidungen

Keine starren Grenzen bei der Preisaufklärung (EuGH, 15.09.2022, Rs. C-669/20)

Ein öffentlicher Auftraggeber führte in Bulgarien ein nicht offenes Vergabeverfahren im Bereich der Verteidigung und Sicherheit durch. Es wurden zwei Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert und ein Bieter erhielt letztlich den Zuschlag. Der andere Bieter legte gegen die Zuschlagserteilung einen Rechtsbehelf ein. Das in zweiter Instanz zuständige Gericht wandte sich an den Europäischen Gerichtshof. Es wollte wissen, ob Auftraggeber selbst dann zur Prüfung, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt, verpflichtet sind, wenn hierfür kein Verdacht besteht oder die Kriterien der nationalen Rechtsvorschriften nicht anwendbar sind.

Der EuGH stellte klar, dass die Prüfung, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, im Fall eines Verdachts auf Unauskömmlichkeit nicht nur anhand eines einzelnen Kriteriums erfolgen darf. Liegen Anhaltspunkte für ein ungewöhnlich niedriges Angebot vor, so hat der Auftraggeber alle maßgeblichen Aspekte des Vergabeverfahrens zu berücksichtigen und nicht nur die Preisabstände einzelner Angebote oder andere Kriterien nationaler Rechtsvorschriften. Zwar kann der Vergleich von konkurrierenden Angeboten zur Feststellung eines ungewöhnlichen Angebots hilfreich sein, jedoch darf dies nicht das einzige Kriterium des Auftraggebers darstellen. Vielmehr sind alle Gesichtspunkte des Einzelfalls zu beachten.

Die Entscheidung des Gerichtshofs lässt sich auch auf das deutsche Vergaberecht übertragen. Denn grundsätzlich genügt es, wenn sich Auftraggeber bei der Auskömmlichkeitsprüfung an dem Preisabstand zum nächstgelegenen Angebot orientieren. In der Rechtsprechung wurden entsprechende Kriterien entwickelt. So dürfen Auftraggeber Angebotspreise grundsätzlich erst ab einer Abweichung von 10 % zum nächsthöheren Angebot überprüfen, wobei sie ein Ermessen bezüglich der Prüfung haben. Spätestens ab einer Abweichung von 20 % muss der Auftraggeber dagegen eine Preisaufklärung durchführen. Der EuGH stellt nun klar, dass Auftraggeber ungewöhnlich niedrige Angebote bei entsprechendem Verdacht auch bei Preisabweichungen von unter 10 % überprüfen dürfen und sich nicht bloß an die Kriterien der Rechtsprechung halten müssen.

Der EuGH widerspricht somit den deutschen Gerichten, die eine Auskömmlichkeitsprüfung nicht erlauben, sofern ein Preisabstand von unter 10 % vorliegt (OLG Karlsruhe, 06.08.2014, 15 Verg 7/14) oder sogar als unzulässig erachten, wenn die Abweichung unter 20 % liegt (OLG Celle, 19.02.2015, 13 Verg 11/14). Vielmehr ist je nach Einzelfall zu prüfen, ob auch bei einem geringen Preisabstand eine Preisprüfung angezeigt ist. (VK Berlin, 25.03.2022, VK B 2-53/21).